16. Dezember 2016

Über das Jahr 2016

 Das ...

 ... ist das Urteil der sozialen Netzwerke. Auch sehr beliebt: „Warum ist 2016 so ein Arsch?“
2016 geht als Chaos-Jahr in die Geschichte ein. Aber wenn die Ereignisse allesamt urplötzlich aufzutreten scheinen, täuscht das: Um in den Schlamassel von Brexit, Trumps Wahl, Reaktion, Krisen und Flüchtlingschaos zu geraten, haben wir ordentlich Anlauf genommen. Die unschöne Geschichte vom Jahr 2016 beginnt meines Erachtens vor zwei Jahrzehnten.

"Party like it's 1999" - Die 90er Jahre werde gerade gehypt und verklärt. Sie gelten als „golden“ – die Generation X feierte friedlich Techno, Drogen und das Ende des kalten Krieges. Doch das ist nicht mal die halbe Wahrheit. Es gärt. 
Während der Clinton-Administration (1992-2000) weht ein neuer Wind durch Washington. Oppositionsführer Newt Gingrich etabliert einen rüden Umgangston und sorgt für einen Shutdown: die Regierungsgeschäfte stehen 96/97 einige Zeit still, die Republikaner verweigern die Zusammenarbeit. Gingrich strengt außerdem ein Amtsenthebungsverfahren gegen Clinton an, als führe er die Nation in den Untergang, dabei geht der Präsident bloß fremd. Hier beginnt die stetige Radikalisierung der Republikanischen Partei: Es folgt ein alles in allem schlechter republikanischer US-Präsident (Bush junior), die unkontrollierbare Teapartybewegung, die Total-Verweigerung einer Zusammenarbeit mit Obama und am Ende, 2016, Trump. Ich glaube: Wenn wir  wissen wollen, warum wir uns heute mit reaktionären Bewegungen rumschlagen, müssen wir in die 90er Jahre in die USA zurückschauen, denn dort beginnt alles (Literaturtips nehme ich gerne entgegen).
Von wegen friedliche 90er, Teil 2: Beim Treffen der Welthandelsorganisation in Seattle 1999 knallt es, es kommt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Es ist scheinbar das Thema der Zukunft: Eine große außerparlamentarische Protestbewegung will die  Globalisierung so nicht, die parlamentarischen Linken dagegen schon, die konservative Elite sowieso. Der Höhepunkt der Proteste findet 2001 in Genua statt, wo ein Mensch zu Tode kommt, Carlo Guilani. Die Globalisierungsgegner kochen vor Wut, NGOs sind der heiße Trend, ATTAC die Organisation der Stunde.
Doch dann ist der Drive plötzlich vorbei.    
Der 11.September 2001 passiert. Statt globales Wirtschaften ist der Krieg gegen den Terror plötzlich das zentrale Gesellschaftsthema: Es gibt einen äußeren Feind - Bin Laden war natürlich schon bekannt, aber jetzt ist man bereit, Länder anzugreifen, um seiner und Al-Quaida habhaft zu werden. Was soll da noch die Kritik an ökonomischer Deregulierung?
Die Bewegung der Globalisierungsgegner stirbt dennoch nicht, es gibt weitere  Proteste, etwa Heiligendamm 2008, oder auch 2015 gegen TTIP. Aber insgesamt gewinnen die Kritiker kaum Einfluss auf westliche Regierungspolitik (Angela Merkel versteht das Phänomen heute noch nicht: Sie spricht davon, dass Maßstäbe verschoben seien).
Die 00er Jahre: Durch die Wiederwahl Bushs 2004 und dessen Kriege halten zunächst die rechten Kritiker still. Aber als Obama 2008 Präsident wird, gründen sie die reaktionäre Tea-Party-Bewegung. Zuerst wird sie als weitere amerikanische Skurrilität belächelt. Doch zusammen mit der Finanzkrise 2008 fördert sie die Entfremdung zwischen Teilen der konservativen amerikanischen Bevölkerung und Washington, bis hin zum 8. November 2016. 
Die linken regierungsfähigen Parteien hatten dagegen die neoliberale Mainstreamlinie in den 90ern übernommen. Die Schlagworte heißen New Labour (Tony Blair), Genosse der Bosse (Gerhard Schröder), oder Politik des 3.Weges (Bill Clinton). Kritik am Neoliberalismus setzt niemand aufs politische Parkett um, weder vor dem Horror-Finanz-Crash 2008, noch danach. Stattdessen arbeitet man sich am Irak-Krieg ab. Diese Krise gilt mittlerweile als Vollkatastrophe, und sie wiegt gleich doppelt schwer: Weder ist der mittlere Osten befriedet, noch sind die eigenen, weiter verschobenen Probleme gelöst. 
Dafür kaufen sich alle Iphones.
Misstrauen, Verschwörungstheorien und Empörung breiten sich aus, wenn Konflikte zu lange schwelen und nichts passiert. Statt etwa die aufkommende Immobilienblase in den 00er Jahren zu bekämpfen (ich erinnere mich, wie Helmut Schmidt zeitig davor warnte), hieß es bloß, wo ist Bin Laden? Kein Entscheider fragte sich: Was sind die sozialen Folgen der Durchökonomisierung des Lebens? Verteilen wir unseren Wohlstand noch gerecht? Wie müssen wir den stattfindenden (digitalen) Wandel steuern, damit er sozialverträglich abläuft? Können wir ihn überhaupt steuern?
Alles blieb liegen, bis heute.
Natürlich kann ich mit den paar Worten nicht die Geschichte der letzten 20 Jahre erklären. Und nicht  der 11.September allein ist schuld an 2016. Aber ich denke, der Westen ließ sich - erfolglos - auf außenpolitische Abenteuer ein, statt sich um eigene Belange zu kümmern. Warum konnte das sein? Diese Jahre müssen aufgearbeitet werden, besonders die der Bush-Administration. Ich hoffe auf interessante Veröffentlichungen in naher Zukunft.
Seit 20 Jahren hagelt es jedenfalls Proteste für eine Kurskorrektur, erfolglos. Diesen Reformstau bezahlen wir 2016 teuer.



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