17. Mai 2017

Das schöne Spiel im neoliberalen Zeitalter

Der Fußball-Journalist Tobias Escher schrieb neulich einen Abgesang auf die große Ära des Fußballs der Messis und Ronaldos. Die jetzige Phase sei die zweite große Zeit nach den goldenen 70ern, doch sie werde mit dem Abgang der großen Spieler bald vorbei sein. Tobias Escher bezieht sich zwar auf das Sportliche, aber man darf die Frage getrost erweitern: Hat der größte Sport der Welt seinen Zenit überschritten? Nach Jahrzehnten des Fußball-Booms gibt es Indizien für eine kommende, schwere Krise: Dies ist ein kritischer Rückblick auf die Entwicklungen der letzten 30 Jahre.

Wenn die Bundesligisten in den 80er Jahren ihre Heimspiele austrugen, war das Stadion einmal in der Saison ausverkauft - gegen Bayern München. Ansonsten blieb es mehr als zur Hälfte leer, im Schnitt kamen 19.000 Zuschauer, viele von ihnen ältere Männer.
Aber 1989 fiel der eiserne Vorhang und im Fußball herrschte Aufbruchsstimmung. Deutschland wurde 1990 Weltmeister (Beckenbauers Spruch von der Unschlagbarkeit Deutschlands fand Eingang in die Zitat-Hölle), zu Beginn der 90er Jahre wurde die Champions League gegründet, sowie die englische Premier League, die populärste National-Liga.
Eine entscheidende Phase, zumindest in Deutschland, begann. Wer jetzt clever war, legte den Grundstein für die Zukunft. Halbseidene Alleinherrscher wie „Sonnenkönig“ Eichberg auf Schalke oder Matthias Ohms wurden zwar bis Mitte des Jahrzehnts aussortiert, dennoch verpassten viele Traditionsklubs die richtigen Weichenstellungen (Frankfurt, Kaiserslautern, Köln, Hamburg oder Stuttgart). Nur wenige von ihnen schafften die Modernisierung und prosperierten nachhaltig (Schalke, Dortmund). Zu ihnen gesellten sich später konzernfinanzierte Vereine (Leverkusen, Wolfsburg, später Hoffenheim und Leipzig) und ein paar wenige andere.
Der Klassenprimus nimmt eine Sonderstellung ein: Nach dem der Verein die 80er Jahre dominiert hatte, verlor Bayern München Anfang der 90er im Umbruch den Anschluss. Clublegenden wie Beckenbauer, Rummenigge und Manager Hoeneß gelang aber die Wende, und spätestens am Ende des Jahrzehnts hatten die Bayern den Platz an der Sonne zurückerobert.
Das Spiel wurde schneller. Bald war es nicht mehr erlaubt, zum Torwart zurückzuspielen und die Drei-Punkte-Regel wurde eingeführt. Man nahm Abschied vom „Heldenfußball“. Arrigo Sacci und in Deutschland Volker Finke, später auch Ralf Rangnick stellten den Fußball auf taktisch moderne Grundlagen. Das Bosman-Urteil des europäischen Gerichtshofs 1995 glich einem Erdbeben in wirtschaftlicher Hinsicht: Es besagte, dass Spieler nach Ende der Vertragslaufzeit frei wechseln durften. Was sich gerecht und heute normal anhört, hat eine neoliberale Komponente und ist typisch für die damalige Ausrichtung der EU: Das Urteil stellte die kickenden Spitzenverdiener mit normalen Arbeitnehmern gleich, was endgültig den Boden bereitete für die heute schwindelerregenden Gehälter und Ablösesummen.
Etwa 1995 waren die Fundamente für die Zukunft gelegt und der Fußball boomte. Die Champions League geriet zur Erfolgsgeschichte in finanzieller wie sportlicher Hinsicht, die Europameisterschaft von 2000 gilt als eines der besten Turniere jemals. Spieler wie Ronaldo, Beckham und Zidane wurden zu globalen Superstars. Fußball eroberte den Mainstream: Nach Nick Hornbys Buch „Fever Pitch“ 1995 durften auch Akademiker zu ihrer Fußballliebe stehen (ihre Hauszeitschrift 11 Freunde würde sich bald gründen), Frauen in den Stadien und auf dem Platz wurden zur Selbstverständlichkeit.¹ Für die nächsten Jahre schaffte der Sport einen – wenn auch zunehmend schwierigen – Spagat: Er wurde teurer und elitärer, blieb aber im Herzen der Fans verankert.
Höhepunkt dieser Entwicklung ist die von Tobias Escher benannte „silberne Zeit“. Bis ungefähr 2009 galt, wenn auch eingeschränkt, die Prämisse, dass Geld nicht zwangsläufig Tore schießt. Sinnbildlich dafür standen "die Galaktischen" Real Madrids um 2005, dessen Mannschaft gespickt war mit Stars, aber relativ erfolglos blieb. Mit dem Antritt von Konzepttrainern wie Guardiola bei Barcelona und Louis van Gaal bei Bayern München änderte sich dies. Die modern und offensiv denkenden Perfektionisten sezierten das Spiel, „Superfußballer“ wie Robben, Ronaldo und Messi schossen nun regelmäßig die Kleinen aus dem Stadion. Ergebnisse wie 5:0 oder 6:1 waren plötzlich an der Tagesordnung, Torverhältnisse von +60 nicht außergewöhnlich. Die großen Klubs waren nicht mehr auf ein paar, sondern auf allen Positionen hervorragend besetzt und Trainer wie Guardiola schweißten die Star-Ensembles als Funktionseinheit zusammen.
Die Großen machten keine Fehler mehr.
Taktik wurde zum Maß aller Dinge. Nicht zufällig entstanden um 2010 Fußballblogs junger Fußballnerds, die mit „Rennen, Kämpfen, Beißen“ nichts mehr anfangen wollten, sondern detailversessene, oft technikgestützte Analysen durchführten. Mit einem Schlag waren junge, gut ausgebildete Trainer en vogue, nachdem jahrzehntelang vorrangig ehemalige Profis die Trainerbank besetzten. Ein konfliktreicher Wandel: Nicht wenige opponieren gegen den neuen, wenig romantischen Ansatz und sehen die alte Deutungshoheit gefährdet. Mehmet Scholl wetterte gegen die „Laptop“-Trainer und Wolfram Eilenberger, Philosoph, Zeit-Kolumnist und Bayernfan schimpfte bei Twitter wenig philosophisch auf die „Jüngels“, (und schwärmt lieber, wie Toni Kroos sich „… einem Zustand vollendeter Wachheit und flüssiger Seinseinheit“ nähert).
Der Turbo, den der Fußball zündete, sorgte auch mittels Kapitalakkumulierung für einen immer härteren Wettbewerb. Ausländische Mäzene übernahmen in England Vereine und pumpten vorher unerhörte Summen in die Mannschaften. Europäische „Superklubs“ entstanden aufgrund der immer größeren Einnahmen – und wahrscheinlich auch durch Protektionismus – und zusammen mit der taktischen Revolution ab 2009/2010 wurden sie für die kleineren Vereine kaum mehr schlagbar.² Heute gleicht es einer Sensation, gewänne außer einer Handvoll Klubs wie Real Madrid, FC Barcelona, Bayern München die Champions League, einstige Größen wie Ajax Amsterdam haben keine Chancen mehr.
Das Spiel mag in der Spitze spektakulär sein, aber es ist exklusiv geworden. Im ehemaligen „Theater of Dreams“, dem traditionsreichen Stadion von Manchester United, sitzen vor allem Touristen. In Deutschland ist der Eintritt billiger, aber dauerhaft internationalen Fußball bekommt man nur in München und Dortmund zu sehen. Wenn kleinere Vereine es in einen der beiden internationalen Wettbewerbe schaffen, so häufen sich aufgrund der kräftezehrenden Doppelbelastung in der Liga die Probleme. Von den Ligen in kleineren Ländern braucht man gar nicht mehr zu reden, sie sind international abgehängt.
Mögen die großen Fußball-Verbände auch früher korrupt gewesen sein, im neuen Jahrtausend nahm dies kleptokratische Ausmaße an. Dutzende FIFA-Funktionäre sind in den letzten Jahren angeklagt worden, der langjährige Chef der FIFA, Sepp Blatter, musste unter dem Urteil der Korruption gehen. Eine kommende WM in der Wüste und die Aufstockung des Turniers auf 48 Teilnehmer zeigen, dass Funktionäre sich völlig von der Basis entfernt haben. Tatsächlich droht sogar ein Auseinanderbrechen der Verbände: Nur mit Mühe verhinderte dies die UEFA letztes Jahr, als eine Champions League-Reform beschlossen wurde, die alles mögliche ist, aber nicht solidarisch. Der "Kicker" wertet dies als ein Fanal. Das Gezerre um Geldpfründe wird immer mehr zur Zerreißprobe: Aktuell gibt es Meldungen, dass der deutsche Profifußball nicht bereit ist, seine Mehreinnahmen mit dem DFB und den Amateuren zu teilen. Geheimverträge sorgen dafür, mal wieder.
Typisch für das Zeitalter der Globalisierung: Der europäische Fußball schaut nach Asien – der Gedanke, dass eines Tages Millionen Chinesen im eigenen Vereinstrikot herumlaufen, macht heißhungrig. Doch just in der Phase, in der deutsche Sponsoren laut darüber nachdenken, Spiele in Shanghai auszutragen, drohen Probleme. Es gibt Anzeichen der Überhitzung in den Kernmärkten: Die deutsche Nationalmannschaft klagt über immer weniger Zuschauer, Sponsoren-Verträge heißt es, sind für Vereine schwerer zu bekommen, und in England sind Berichte aufgetaucht, dass diese Saison die Zuschauerzahlen im Pay-TV rückläufig sind.
Der Fußball in den letzten 25 bis 30 Jahren ist ein Paradebeispiel dafür, welche Entwicklungschancen und welche Problematiken eine entfesselte Wachstumsorientierung mit sich bringt. Wachstum an sich und vielleicht nicht einmal die ungleiche Mittelverteilung sind schädlich, kleine und große Vereine hat es schon immer gegeben. Höchst problematisch sind die schier exponentielle, rasende Entwicklung, die dadurch entstehenden riesigen Größenunterschiede und die fehlenden Korrekturmechanismen.
In seiner ersten Bundesliga-Saison 2016/17 erlebte der von Red Bull finanzierte RB Leipzig geradezu einen Spießrutenlauf auswärts. Es hagelte Sprüche, Unflätigkeiten und Ausfälle gegen Brause-Kicker und -zuschauer. Presse, DFB und Verantwortliche verurteilten einmütig die teils überzogene Kritik, die hart bestraft wurde. Einige Übergriffe waren tatsächlich völlig drüber. Doch bei aller Kritik, das Statement ist da: Viele Fans lehnen eine weitere Kapitalisierung des Fußballs ab. Sie stehen den finanzkräftigen Eliten skeptisch gegenüber, eine Entwicklung, die nicht überraschen kann, weil sie aus anderen Teilen der Gesellschaft bekannt ist. Der heftige Protest gegen RB Leipzig sind Alarmsignale, Zeichen der Spaltung, die wenig Beachtung finden. Dabei man muss kein Sozialist sein, sondern bloß die Augen aufmachen, um zu erkennen, wie der Fußball dabei ist, sich in eine fundamentale Krise zu wachsen.
Kein Wunder, bei so wenigen Gewinnern und soviel Verlierern.


Dies ist ein Beitrag zur Serie Über das Ende der Herrschaft des weißen Mannes


¹ Noch 1989 bekamen die Spielerinnen der Nationalelf zum EM-Titelgewinn ein Kaffeeservice als Prämie
² Die englischen Vereine konnten interessanterweise die taktische Revolution nicht adaptieren und spielen deswegen international zur Zeit (noch) keine Rolle, dasselbe galt einige Jahre für italienische Mannschaften


1 Kommentar:

  1. Du sprichst viele Bereich an zu denen es etwas zusagen gäbe. Aber ja, die Kernaussage wird ja weiter bestätigt, Helene Fischer wurde ausgebuht und die Weißbierkameras der Bayern ernten nur noch Hohn. Sponsoren möchten das DFB-Pokalfinale nach Fernost verlegen usw. Dennoch sehe ich den Fußball als Phasengeschäft. Sowohl taktisch wie auch von seiner Popularität her. Messis Stern sinkt bereits und ob man ihn mag oder nicht, ohne Ronaldo schießt auch in Madrid Geld nicht zwangsläufig den Erfolg herbei. Vergeht er, geht eine fußballerische Ära. Ob eine Welt, falls sie weiter kriselt, die perversen Gehälter weiterhin unterstützt, das Spiel als Realitätsflucht mehr denn je braucht, oder die Stars im Gegenteil endlich Arbeiten schickt, bleibt offen.

    AntwortenLöschen