27. September 2017

Die Abrechnung - über die Bundestagswahl

Im Osten Brandenburgs, kurz vor Polen, liegt das Schlaubetal. Das Tal - oder besser die eiszeitliche Rinne - gilt als Ferienregion. Eigentlich.
Die Wanderwege sind zugewuchert, bei einem Spaziergang durch die kleinen Dörfer ist man völlig allein und Infrastruktur ist auch kaum vorhanden. Zum Tanken und Einkaufen muss man 25 Kilometer nach Eisenhüttenstadt fahren – das anscheinend bloß aus Malls besteht – und nur wenn man Glück hat, an einer idealen Stelle, zeigt das Smartphone zwei Balken an.
In und um das Schlaubetal könnte man einen Endzeitfilm mit Zombies drehen, die Einwohner würden es nicht einmal merken.
Auch wenn ich den Osten mag, an solchen Orten beschleicht mich als Wessi das Gefühl der Entfremdung. Ich kenne Deutschland anders. Dabei ist die Region noch günstig gelegen, eine Stunde ist es zum Stadtrand Berlins.
Aber man muss sich wohl damit abfinden: Das System des liberalen Kapitalismus ist im Osten nicht richtig angekommen, auch 28 Jahre nach dem Mauerfall nicht.
Willkommen bei den Bundestagswahlen, willkommen bei der großen Abrechnung Ostdeutschlands.
Die Message: Die Einheit Deutschlands ist gescheitert.

Als die Bundesrepublik 28 Jahre alt war, also 1977, lagen ungefähr 20 Jahre Wirtschaftsboom hinter ihr. Und viele Wertedebatten, etwa um Emanzipation, Demokratieauffassung und Pressefreiheit. Zwar überlagerte der „Deutschen Herbst“ das Jahr - die Terroroffensive der RAF – aber die Krise ging mit Nachwirkungen vorüber. In fünf Jahren würde Kohl Kanzler sein, bald würden sich die Grünen gründen und Vergangenheitsbewältigung geriet immer mehr in den Fokus. Trotz aller Differenzen einigten sich die meisten Westdeutschen darauf, dass die Staatsgründung mehr als geglückt war.
Warum also, dachte man 1990, sollte die wundersame Fügung der deutschen Einheit nicht gelingen? Man gäbe dem Osten Starthilfe, die Regeln und Gesetze Westdeutschlands würden voll und ganz übernommen - gut, den Grünpfeil darf der Osten behalten – und der Rest geht mit dem kommenden Wirtschaftsaufschwung wie von selbst.
Es kam anders. Ostdeutschland hat keine ähnliche Dynamik wie der Westen erfahren. Nicht in wirtschaftlicher Hinsicht, nicht in irgendeiner anderen gewünschten. Das Konzept des Westens scheiterte.
Die ökonomischen Berichte, auch die staatlich-offiziellen belegen das: Ostdeutschland ist das Mezzogiorno Deutschlands. Es gibt ein paar wirtschaftliche Leuchttürme wie Dresden oder Leipzig (auch Berlin, speziell der Südosten boomt relativ gesehen), aber vor allem werden die Mieten überteuer. Der große Effekt bleibt aus.
In der jetzigen Phase des angeblichen "Wirtschaftsbooms" und nach Billionen Euro Transferleistungen heißt das: Viele Ostdeutsche kommen irgendwie zurecht – wenn auch längst nicht so gut wie in Westdeutschland – aber es bleiben ganze Gruppen und (ländliche) Regionen abgehängt. (Für den Westen gilt ähnliches, aber weniger ausgeprägt).
Ostdeutschland hat die wirtschaftlichen Übergang nicht wirklich vollzogen und auch nicht den kulturellen. Als Lutz Bachmann am Montag seine „Freunde“ von Pegida vor der Dresdner Frauenkirche begrüßte, war er freudig erregt aufgrund der Erfolge der AfD tags zuvor. Das sei nur der Anfang, sprach Bachmann, man wolle nun 2019 in Sachsen den Ministerpräsidenten stellen. Die Leute johlten. 
Bachmann und seine „Freunde“, das sah man, waren bei sich, in ihrer tatsächlichen und geistigen Heimat. Ihre implizite Botschaft lautet „Wir sind nicht wie die Wessis, wir machen unser eigenes Ding“, die mehr explizite „Wir sind rechts“. Die Borniertheit der Ewiggestrigen liegt offen. 
Dass diese Minderheit so groß werden konnte, lag aber an der Borniertheit des Westens. Sein Nation Building – und nichts anderes war die Wiedervereinigung – hat er vergeigt. Das Dynamischste, was der Osten seit der Wiedervereinigung vorgebracht hat, ist AfD und Pegida.
Man kann länglich über die Wirtschaftspolitik diskutieren. Aber der noch größere Fehler war zuzusehen, wie die Identität der Ostdeutschen in einem fremden System den Bach runterging. Gregor Gysi meinte einst, warum man nicht die 10 besten Dinge der DDR übernommen habe? Bei aller Verfehlungen des Sozialismus, es wäre eine nachdenkenswerte Idee gewesen.
Heute fällt mir kaum überregional Sinnstiftendes zu Ostdeutschland ein. Was denn auch, Red Bull Leipzig?
In den letzten 28 Jahren stagnierte der Osten nicht nur relativ, Teile der Gesellschaft haben sich weiter entwickelt. Hin zu mehr Globalisierung, zu mehr Effizienz, zu mehr moralischen Anspruch. Die Gegensätze wurden riesig, eine Polarisierung ist die Folge. Das schlug sich in der jetzigen Bundestagswahl nieder: Es kam zur Abstrafung der großen Koalition, in Ostdeutschland haben über 40 Prozent der Wähler die West-Parteien (SPD, Grüne, CDU/CSU und FDP) abgewählt. Die AfD zog den Nutzen aus dem Protest (auch im Westen, aber deutlich schwächer).
Dass die CDU im Osten lange nicht durchblickte, kann ich noch am ehesten verstehen. Sie stellte erst den Einheitskanzler, später Angela Merkel, was bei Wahlen meist honoriert wurde. Warum also den Kurs ändern?
Erstaunt dagegen bin ich seit Jahren über die Linksliberalen, von denen der SPD und den Grünen, aber auch von den tonangebenden in der Öffentlichkeit. Sie hätten es kommen sehen müssen. 
Die wirtschaftlichen Zustände in Ostdeutschland sind überregional schänderlicherweise sowieso als Nebensache behandelt worden, doch auch grundsätzliche Kritik an neoliberaler Politik gab es nur in Nischen, von Kritik am Schönwetter-Kurs Angela Merkels ganz zu schweigen. 
Stattdessen dreschen nun nach der Wahl viele auf den Osten ein, zumindest in den sozialen Netzwerken: „Zwei Staaten wären gar nicht so schlecht“ – „Mit den Rechtsextremen drüben reden? Gehts noch?“ –  „Ostdeutschland, daran müssen wir uns gewöhnen, ist halt eher Osteuropa“ – „Sucksen!“ 
Wenn es um Minderheiten und Intoleranz geht, laufen die modernen Linksliberalen Sturm. Doch mir ist nur schwer begreiflich, dass neben Transgender, LGBT, und Gleichberechtigung eine wirtschaftlich und kulturell jahrzehntelang benachteiligte Gruppe nicht inkludiert wird: Die Ostdeutschen in Ostdeutschland. Liegt das daran, dass über die Hälfte dort weiße Männer sind?
Es ist reine Heuchelei.
Egal ob links- oder rechtsliberal, die Meisten haben es sich unter Merkel und dem Neoliberalismus gemütlich gemacht. Kein Wunder, sie haben ja auch profitiert. Die neue Gesellschaft, die zukunftsfixierte digitale Ökonomie und das ich-jette-mal-schnell-nach-London-und-lebe-übrigens-vegan Gehabe vergisst ganze Bevölkerungsgruppen und Landstriche. Jedes Flugziel von Berlin aus liegt ihnen näher als das Schlaubetal. Den meisten Wessis ist der Osten scheißegal.
Zur Flüchtlingsfrage. Der Soziologe Holger Lengfeld argumentiert, dass die Fremdenfeindlichkeit im Osten wenig mit sozialer Gerechtigkeit zu tun habe, oder mit einer ökonomischen Schieflage, AfD-Anhänger verdienten gar nicht so schlecht, sie liefen Sturm gegen Flüchtlinge weil das Gefühlt hätten, kulturell zurückgesetzt zu werden.
Wie verliefen denn die Ausländerdebatten in Westdeutschland?
Abfällig wurden die sieben bis acht Millionen Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten in den 50er Jahren behandelt. Man hatte doch sowieso nichts, und jetzt kamen noch die aus dem Osten! Später, im Zuge der Gastarbeiterdebatte, wurden jahrzehntelang lang um Türken, Griechen und Italiener heftigst (und fremdenfeindlich) diskutiert und nur zäh Vorurteile abgebaut. Dass der Prozess nicht abgeschlossen ist, sehen wir am Wahlergebnis im Westen
Wenn also die boomende Ökonomie in Westdeutschland sich mit Vorurteilen einst schwer tat, wie soll das in Ostdeutschland einfach so funktionieren? Wie kann man angesichts der deutschen Historie glauben, Rassisten fallen einfach so vom Himmel?
Der Osten kennt gerade einmal die Anfänge einer Wertedebatte, hat immer noch wenig Erfahrung mit Ausländern, und von einem Wirtschaftswunder nur gehört. Wir sind  – zum Teil – auf dem Debattenstand von vielleicht 1970 in Westdeutschland. 
Auch das hätte zum Nationbuilding dazugehört: Es ist ein steiniger Weg zu mehr Liberalität - speziell in Deutschland.
Ich möchte Rechtsradikalismus im Übrigen gar nicht entschuldigen. 
Mir ist völlig klar, dass Sachsen ein genuines Problem hat, andere Regionen auch (dazu hoffentlich bald ein eigener Post), dass das gerade in Deutschland widerwärtig ist, und echten Rechtsextremen nur mit Intoleranz begegnet werden kann.
Doch es bleibt für mich kaum zu fassen, dass viele (westliche) Liberale, sich kurz vor 1933 wähnen, höchste Moral-Standards einfordern und ihre eigene Mitschuld völlig unterschlagen. Sie haben Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung rechts liegen gelassen, oder gleich auf die Ossis herabgeschaut, nie eine progressive Haltung zur Einheit entwickelt, sehen die Zusammenhänge nicht (dass es in Westdeutschland kaum anders war) oder dass es manchmal auch einfach nicht einfach ist: Fremdenangst herrscht oft dort, wo die Toleranzgrenze niedrig ist, dort, wo viele glauben, in diesem Deutschland sowieso schon nicht gut behandelt zu werden. Letzteres stimmt leider, viel zu oft.
Ich kann nicht verstehen, dass es gegenüber einer Angela Merkel, Schulterschlussbekundungen gibt und keine Rücktrittsforderungen (das müsste eine Grundvoraussetzung für eine Jamaikakoalition sein, meiner Meinung nach). Wie kann man das hochproblematische Laissez-Faire der letzten Jahre und Jahrzehnte tolerieren? Merkel steht wie niemand anderes für ein weiter so. Doch es ist eben nicht alles in Ordnung, vor allem nicht in ihrer Heimat. Warum hat sie sich eigentlich nie stärker für sie eingesetzt?
All den Bornierten, die einst glaubten, man könne die Wiedervereinigung behandeln wie ein Stiefkind – Geld meinetwegen, Aufmerksamkeit auf keinen Fall – würde ich am liebsten strafversetzen. Ab ins Osterzgebirge, für ein halbes Jahr.
Und, bevor ich die Ostdeutschen völlig von Schuld befreie: Ja, sie haben ihren Teil dazu beigetragen. Zu verlockend war 1990 die Sehnsucht nach Freiheit, Kohle und Wiedervereinigung. Bedenken, dass man nicht gerade dem gelobten Land beitrat, man auch gewisse Eigenheiten behalten solle, vielleicht sogar über den Tisch gezogen werden würde, wurden naiv beiseite gewischt. Man kann es den Ossis nicht ganz verdenken, aber was ich mir heute wünschen würde ist, das diejenigen, die vom Demokratie und Liberalität profitiert haben, wesentlich lauter dafür einstehen.
Im Landkreis Oder-Spree, in dem das Schlaubetal liegt, wurde die AfD übrigens recht knapp zweitstärkste Kraft hinter der CDU. 
Wir hatten 28 Jahre Zeit, wir es hätten besser wissen müssen. Doch der Geist ist erst einmal aus der Flasche. 
Die deutsche Wiedervereinigung steht infrage. 

3 Kommentare:

  1. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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  2. Herzlichen Dank. Man hört sehr selten solche Worte aus den alten Bundesländern.
    Anzumerken ist, dass die AFD im Osten leichtes Spiel hat.
    Eine funktionierende Parteienlandschaft ist nicht über Jahrzehnte gewachsen sondern wurde nach der Wende einfach vom Westen, milde ausgedrückt, "übernommen". Dieses (westdeutsche) Parteiensystem hat im Osten aber auf ganzer Linie versagt. Gründe gibt es viele. Keine Basis und Änhängerschaft, das Abstrafen für nichtgehaltene Wahlversprechen, regelrechtes Anlügen der Wähler, Entäuschung über eingegangene Koalitionen, zahnlose Landesregierungen usw..

    Jetzt kommt die AfD.
    Die ehemals rechtsliberale Westpartei hat es in weniger als zwei Jahren geschaft den Osten um den Finger zu wickeln.
    PEGIDA und Frauke Petry haben das geschaft woran die etablierten Parteien gescheitert sind.
    Sie haben dem Osten zugehört.
    Endlich gab es ein Ventil welches Gehör fand.
    (Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang die unrühmliche Rolle des ÖR Rundfunks.)

    Möglicherweise ist die AfD für viele im Osten etwas "eigenes", etwas was sie dem importierten westlichen Parteiensystem entgegenstetzen können, ein legitimer und willkommener Interessenvertreter des Ostens.

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  3. Vielen Dank für den Kommentar! Was meinst du mit der unrühmlichen Rolle der ÖR?

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