3. Oktober 2018

Zum Tag und Zustand der deutschen Einheit

Über ein Jahr ist seit der Bundestagswahl und der Abrechnung mit der westdeutschen Haltung gegenüber dem Osten vergangen. Viel ist seitdem passiert, das Thema Einheit und Ostdeutschland rückte verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit - es wurde auch Zeit.
Zum 3.Oktober 2018 daher einige kommentierte Lese-, Hör- und Schau-Empfehlungen zur Frage, warum alles so kompliziert ist hüben und drüben.


"Wir waren wie Brüder" ist ein berührendes, nachdenkliches Essay über die 90er Jahre in Brandenburg. Daniel Schulz schreibt über soziale Deprivation und Rechtsextremismus und beim Lesen scheint es, als stimmten alle Klischees von einst doch. In die gleiche Kerbe schlägt ein spannendes Video-Interview mit einem linken Sozialarbeiter in Sachsen.

Drei brandneue Bücher scheinen gerade interessant, meinem Empfinden nach: Erstens „Wer wir sind: Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein“ – Ein Streitgespräch mit sehr gegensätzlichen Standpunkten.

Zweitens Lukas Rietsch: „Mit der Faust in die Welt schlagen“ – Ein (Jugend-)Roman und großer Feuilleton-Hype.


Drittens Petra Köpping, sächsische Integrationsministerin: „Integriert doch erstmal uns!“. Der Titel sei laut Köpping ein Zitat, dass sie oft höre, etwa auf Pegida-Demonstrationen. In diesem Interview äußert sie sich klug über die ostdeutschen Verhältnisse und empfundene Kränkungen.

Journalist Jonas Schaible fokussiert sich in diesem Essay auf Polarisierung im Allgemeinen. Er benennt die Konfliktlinie „Pluralitäre gegen Normalitäre“. Es gäbe Abgehängte und Konservative, deren Normalität plötzlich unnormal scheine („Bin ich ein Klima-Killer, wenn ich Fleisch grille?“ – Heinz Buschkowsky in „Bild“), sowie „Pluralitäre“, die der fortschreitenden Ausdifferenzierung und Demokratisierung  (Minderheitenfokus, Feminismus, Antirassismus) Rechnung tragen.
Auf der einen Seite hat Schaible durchaus recht und charakterisiert treffend Befindlichkeiten von Rechtsintellektuellen und Ewiggestrigen. Hier prallen kulturelle Weltanschauungen aufeinander.

Auf der anderen Seite hält Schaible wirtschaftliche Gründe für den Aufstieg der AfD tatsächlich für irrelevant („It’s just not the ecomnomy, stupid“). Trotz niedriger Arbeitslosenzahlen und ein paar anderen positiver Indikatoren, größer könnte er nicht irren. Ostdeutschland wird auf Jahrzehnte den Westen wirtschaftlich nicht einholen, das sagen fast alle Experten, gerade ist wieder ein Bericht dazu erschienen. Wie kann man dies und den jahrzehntelangen wirtschaftlichen Niedergang unter den Tisch fallen lassen? Es wirkt fürchterlich verquer, wenn Schaible weißen (ostdeutschen) Männern generischen Rassismus unterstellt, wenn gerade Ostdeutsche diskriminiert wurden, exakt wie manch andere Minderheit auch, vor allem wirtschaftlich, aber auch kulturell (etwa die ewige Verhöhnung des sächsischen Dialekts). Doch weil es eben weiße Männer sind, scheint das im Allgemeinen wohl nicht zu gelten. Es ist irre.

Ähnlich schwer tue ich mich mit Margarete Stokowski. Sie hat natürlich recht, wenn sie über die Vorkommnisse in Chemnitz schreibt, Nazis müsse radikal(er) begegnet werden („Antifa bleibt Handarbeit“); in dieser Richtung ist viel zuwenig passiert, das zeigt allein der NSU-Prozess.
Ich halte Stokowskis Ansatz dennoch für eine Art Armchair-Analyse. Sie erklärt nicht, wie wir die Nazi-Brutstätten ausräuchern, sprich entleerte Landstriche mit winzigen Gewerbegebieten beleben. Was machen wir mit Menschen, die über 20 Jahre lang mit Arbeitslosenzahlen von um die offiziell 15%, faktisch 30%, aufwuchsen und heute Minijobs haben und nur deswegen aus der Arbeitslosenstatistik rausfallen? Was machen wir mit dem Erbe der Treuhand, die einst im Osten willkürlich schaltete und waltete und massenhaft mit Existenzen Gott spielte?
Wer Stokowskis und Schaibles Kolumnen liest, könnte glauben, alles sei im Grunde ganz simpel erklärbar. Bei Beiden bezweifle ich, dass sie Ostdeutschland wirklich kennen. 

Zum Schluß zwei Empfehlungen:
Der Film „Gundermann“ zeichnet den Umgang des sächsischen Musikers Gerhard Gundermann
mit seiner IM-Vergangenheit nach. Hier passiert das, was ich oft vermisse: Der Film beschönigt nichts, vereinfacht nichts, verurteilt nicht, sondern differenziert. Gundermann wird nicht entschuldigt, aber auch nicht verdammt. "Gundermann" ist bestimmt der beste deutsche Film 2018. Wäre Gundermann nicht so früh gestorben (mit 43 Jahren, 1998), hätte er als Symbol für das wiedervereinigte Deutschland getaugt: Seine Musik ist eindeutig westlich inspiriert, seine Texte waren hingegen ganz im Hier und Jetzt des (ostdeutschen) Alltags verankert.
Und wenn wir schon bei (Gunder-)mann sind: Trettmann ist auch wichtig. Zumindest sein Song „Grauer Beton“. Trettmann stammt aus Chemnitz, hatte auch eine schwierige Vergangenheit und zeigt, dass man deswegen noch lange nicht rechtsextrem werden muss, im Gegenteil. Ein Song, der mehr über die Nachwendezeit erzählt, als manch Film oder Buch.

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