14. Juli 2018

Alles außer Fußball (1/2): Die vielsagenden Ergebnisse des wichtigsten Sportereignisses der Welt

Die Fußballweltmeisterschaft als gigantomanisches Sportereignis ist auch ein Spiegel der Nationen. Wie man sich hier präsentiert, lässt tief in die Kulturgeschichte der einzelnen Länder blicken. Wie, dies probiere ich mit diesem Beitrag ein bisschen auszuloten. Achtung: Das ist zum Teil unlauter, es basiert auf Vermutungen. Aber sind Spekulationen beim schönsten Sport der Welt nicht das Salz in der Suppe? Spaß macht’s in jedem Fall,.
Hier meine erste steile These: Die Ergebnisse bei Weltmeisterschaften sind langfristig gar nicht abhängig vom Sport selbst  – denn Fußball betreiben alle Länder mehr oder weniger gleich seriös. Eher ist der Erfolg davon abhängig, in welchem Zustand sich die jeweilige Nation befindet. Umgekehrt darf man auch Rückschlüsse ziehen von Fußballturnieren auf die Länder.  All das tue ich nun.


Bitte meine Worte auf die Goldwaage legen und genau abwägen! Ich habe lange daran geforscht. Mindestens 3 Stunden.




Vorbemerkungen

1. Der sportliche Wert von Weltmeisterschaften
Die WM 2018 in Russland war nicht überragend, höchstens befriedigend, aber das ist immerhin etwas. Der Druck zu versagen wird von Turnier zu Turnier größer, die meisten Teams riskieren wenig, zuviel steht auf dem Spiel. Es gab freilich schon schlimmere Ausgaben:  Die K.O.-Runde der WM 2006 war eine äußerst öde Angelegenheit, was gerne untergeht bei den Erzählungen vom „Sommermärchen“.

2. Weltmeisterrezepte
Es haben sich bisher zwei Großkonzepte durchgesetzt, wie die Weltmeisterschaft zu gewinnen ist: Das Europäische und das Südamerikanische.
Das europäische Konzept wirkt kühl, ist geprägt von Organisation, Disziplin und guter Defensive, gepaart mit ein paar wenigen überragenden offensiven Aktionen bzw. Spielern.
Das südamerikanische Konzept tendiert zur Bereitstellung von Talent und unbedingter Hingabe. Bei 5 der 8 Weltmeistertitel nach 1945 waren absolute Genies Schlüsselfiguren: Bei Brasilien Pele und Garrincha, sowie Ronaldo/Ronaldinho, bei Argentinien die Legende Maradona.
Das südamerikanische Konzept muss sich jedoch neu beweisen: Einen südamerikanischen Weltmeister hat es erst einmal in diesem Jahrhundert gegeben, 2002. Neymar ist 2018 erneut gescheitert (siehe unten).

 

Zu einzelnen Teams: 


Brasilien.

Zum Ende des 2018er WM-Viertelfinales, als Brasilien gegen Belgien 1:2 hinten lag und ein Tor brauchte, da spielte Neymar im Sechzehner seinen Mitspieler Coutinho an. Dieser zog völlig frei ab, aus 13 Metern und drosch den Ball in den schwarzen Nachthimmel von Kasan. Coutinhos jämmerlich vergebene Chance zeigte auf, wie sehr Brasiliens Nerven blank lagen. Wieder einmal.
 

Dem Land wird eine „Straßenkötermentalität“ nachgesagt, ein Minderwertigkeitskomplex, der trotz aller Erfolge seit Jahrzehnten beständig ist. Zur jüngeren Symptomatik: 1998, im Vorfeld des WM-Finales gegen Frankreich gab es einen hysterischen Nervenkrieg um „El Fenomeno“ Ronaldo. Hatte er einen Zusammenbruch in der Kabine? Wurde er gezwungen zu spielen? Brasilien verlor das Finale 0:3. 2010 schieden sie gegen die Niederlande aus, obwohl sie eigentlich gut im Spiel waren, aber nach zwei überraschenden Gegentreffern völlig kopflos agierten. 2014 der berühmte Tiefpunkt: Die 1:7 Katastrophe gegen Deutschland. 11 Nervenbündel trafen auf eine eiskalte deutsche Pressingmaschine, die alles niederwalzte. Obwohl das Team 2017/18 über 20 Spiele ungeschlagen blieb und personell überragend besetzt ist, flogen sie erneut raus, nun gegen Belgien.
 

Warum ist der Druck auf Brasilien so groß? Sie sind die Könige des Fußballs, 5 WM-Titel haben sie bereits errungen, mehr besitzt niemand. Ähnlich wie Real Madrid könnten sie auftreten, souverän, mit breiter Brust. Stattdessen bleiben Neymars passiv-aggressive Schauspieleinlagen in Erinnerung. Der Superstar schien nie zu begreifen, wie er die scheinbar übermenschliche Last der Verantwortung schultern sollte. Wer poetisch und ein wenig abgehoben argumentiert, der kann in Neymar auch den gescheiterten Menschen der Postmoderne sehen: So sehr er sich anstrengt, es reicht nicht. Dem Frust folgt Selbstmitleid, Aggression, und, sehr typisch für heute, Opfermentalität
Etwas profaner ist die länderspezifische Deutung. Brasilien und seine Spieler messen dem Fußball eine Bedeutung bei, die alles Vernünftige übersteigt. Was versuchen sie über den Fußball zu kompensieren? Ein Dasein als Schwellenland, dessen Potential unausgereizt bleibt?


Deutschland.

 
Jahrzehntelang besaß Westdeutschland einen großen Vorteil gegenüber seinen Wettbewerbern: Es hatte den Krieg verloren. So hoch wie etwa bei den Brasilianern konnte der Druck auf das Team nie steigen, ganz unten war man schließlich schon gewesen. Da man nichts verlieren konnte, konnte man nur gewinnen: Westdeutscher WM-Fußball war von Erwartungen unbelastet und daher nervenstark.
Natürlich kann man einwenden, dass der Gewinn der Weltmeisterschaft 1954 eine Fußball-Manie
entfachte und zur deutschen Legendenbildung beitrug (Walter-Elf, Wunder von Bern), Nationalstolz hervorbrachte. Aber das oft kolportierte „Wir sind wieder wer“ ist ein Märchen der Bildzeitung. Historiker wie Franz-Josef Brüggemeier haben das schon vor Jahren aufgezeigt.
 

In jedem Fall hatten die Westdeutschen ein eigenes Gewinner-Rezept gefunden. Große Spielerressourcen, gesunder, aber kein überstolzer Ehrgeiz, "Seriösität" und Ruhe. Kein Wunder, dass die Westdeutschen einer Maschine ähnlich spielten. Die Spieler agierten nüchtern, weil sie auf dem Boden blieben, sie waren konstant, weil sie ihre Nerven nicht wegschmissen. Diese Mixtur sicherte den Erfolg auf Jahrzehnte hinaus: Seit 1954 hagelte es vier WM- und drei EM-Titel. Zuletzt begann Deutschland gar, schön zu spielen!
 

Während der WM 2018 erfolgte jedoch ein Bruch. Zum ersten Mal funktionierten die Deutschen nicht mehr, spielten schlecht und schieden so früh aus wie nie. Der genaue Grund dafür ist mir nicht bekannt, vielleicht sind die Ursachen banal. Warum sollte es Deutschland eben nicht auch erwischen?
Doch verlockend ist es schon, eine Zäsur zu erkennen, so, wie ich sie schon ein paar Mal in anderem Kontext benannte: Die Ära der Nachkriegszeit scheint vorbei zu sein, (West-)Deutschland hat keine Sonderstellung mehr, wie noch im 20.Jahrhundert. Wir haben mehr zu verlieren als 1954, mehr als wir dachten und als uns lieb ist.

 

England.
 
England hatte nach dem Zweiten Weltkrieg kaum reelle Chancen, Weltmeister zu werden. Sie wurden es dennoch einmal, 1966, weil sie zuhause spielten, ein ordentliches Team besaßen und Glück hatten (Europameister wurden sie gar nie). Der Grund ihrer relativen Perspektivlosigkeit: Ihr einstiger Entwicklungsvorsprung im Fußball zu Beginn des 20.Jahrhunderts war nach dem Krieg aufgebraucht und Ressourcen, ihn wieder auszubauen, gab es nicht.


Bei England bin ich mir am Sichersten: Die Entwicklung um das Land als Ganzes spielt eine entscheidende Rolle bei der Performance des Nationalteams. Die Deutschen mochten nach dem Krieg nichts zu verlieren gehabt haben, England dagegen sehr viel: Das Land war der Erfinder des Spiels. Außerdem krachte gerade sein 350 Jahre altes Imperium zusammen. These: Englands softer Übergang zur gewöhnlichen Nation hatte den Vorteil, dass es mehr oder weniger friedlich blieb. Nachteil: Es dämmerte erstmal nicht, dass der Platz an der Sonne nicht temporär oder relativ, sondern absolut und für immer futsch war. 


Oft steigerte sich die Fußball-Euphorie vor einem Turnier ins Erstaunliche (Football is coming home), und manchmal gab es sogar den einen oder anderen Anlass dafür, doch jedes Mal aufs Neue wurden Hoffnungen enttäuscht. Die Favoritenstellung Englands und sein Scheitern verkamen zu einem Running Gag. Englands Elfmetertrauma ist dabei zutiefst symbolträchtig: Es war, als würden sich die Spieler selbst bestrafen. Indem sie verschossen, stimmten sie insgeheim der Einschätzung von der Mittelmäßigkeit Englands zu. Tradition, Hype, altbackener Spielstil und Wunschträume ersetzen eben nicht die Organisation und Disziplin anderer Länder wie Italien, Frankreich, Spanien oder Deutschland. Englands große Erwartungen waren im Gegensatz zu Brasiliens Anspruch sportlich nicht kompensierbar. 

Eine weitere Rolle spielt die angelsächsische Lust auf Sensationalismus. David Beckhams Karriere zeigt das beispielsweise. „Becks“ wurde durch viel Rampenlicht zum schwerreichen Weltstar. Von seinen Leistungen spricht allerdings keiner mehr.

Nun ist es 2018 und möchte man meinen, England MUSSTE was aus all den Niederlagen gelernt haben. Haben sie. Viele Teamspieler sind tatsächlich jung, der Nachwuchs gewinnt haufenweise Turniere, England ging diese WM augenscheinlich professioneller an (Noch 2 Jahre zuvor waren sie mal wieder gescheitert, gegen Island!). Der neue Trainer Southgate wirkt frisch, klar und reformorientiert.


Aber trotz allen Hypes, die englische Mannschaft ist im Halbfinale ausgeschieden, gegen das kleine Kroatien, mit 2:1, und gerade haben sie das Spiel um Platz 3 verloren. 7 WM-Spiele, davon 3 Niederlagen, so toll ist die Bilanz nicht. Das Team hatte Losglück und räumte recht schwache Mannschaften wie Schweden aus dem Weg, spielerisch konnte es selten überzeugen. Böse Zungen in Deutschland verglichen es mit Schalke, dass langweiligen Defensiv-Fußball spielt.
Immerhin, sie haben mal wieder ein Elfmeterschießen gewonnen.

Das Team ist jung. Hat es Zukunft? Zu wünschen wäre es dem Fußball-Mutterland. Aber zum einen ist Englands Premier League ein Finanzlabor, in dem getestet wird, wieviel Geld für den Fußball zuviel ist (es scheint sehr, sehr, sehr viel zu sein), Talente haben es schwer. Zum anderen zeigt der Brexit, wie sich weite Teile des Landes die gesellschaftliche Zukunft vorstellt: Rückwärtsgewandt, der Splendid Isolation hinterherhechelnd.
 

Keine guten Voraussetzungen für einen kommenden Weltmeister.


Nächste Woche in Teil zwei folgen die Teams Frankreich, Spanien, sowie Anmerkungen zu Mannschaften, die überraschend nicht an der WM teilnahmen.

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