24. September 2016

Eine neue Ordnung Teil II (Die Herausforderungen)

Wir haben in Teil I also argumentiert, dass unsere Politiker aktuell ein trauriges Bild abgeben. Das ist sicher nicht nur die "Schuld" der aktuellen Politikerkaste. Auch viele Bürger haben sich in gesättigten Wohlstandsgesellschaften bequem darin eingerichtet, die Erfolge ihrem eigenen Engagement, so klein es auch sein mag, zuzuschreiben, die Misserfolge und Schwierigkeiten aber den Politikern zuzuschieben. Demokratie ermöglicht es freien Menschen eben auch, die Schuldigen selbst zu bestimmen. Aus Sicht der Politiker verschwindet wiederum der Citoyen, also der eigenverantwortlich das Gemeinwesen mitgestaltende Bürger. Der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger hatte unter „Staatsernst“ nicht das Recht gemeint, sich zu beklagen, sondern eine aktive Verantwortung der Staatsbürger für ihr Staatssystem. Wir haben also nicht nur schlechte Politiker sondern auch schlechte Bürger. Das ist natürlich eine Frage der Perspektive. Weshalb also können "wir uns nicht mehr ausstehen", wie Rocketrocker gerne sagt?
Zunächst gibt es wirklich viele arme Menschen. Nach Angaben von Eurostat leben in Europa ca. 80 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Diese Menschen haben aber keine laute Stimme. Man hört sie selten. Und wenn, dann ist es oft unangenehm. Wie zum Beispiel am Berliner Ostbahnhof. Eine obdachlose Alkoholikerin schrie einen Reisenden an "Refugees not welcome. Bei uns gibt es auch arme Leute." Ich erzählte es einem befreundeten schweizer Manager. Der schüttelte den Kopf "Berliner Assis." Welten die sich nicht verstehen. Dazu kommt eine sowohl subjektiv empfundene wie auch empirisch messbare Ungerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft. Die in Wirtschaftskreisen allzu lange und allzu gerne geglaubte These Simon Kuznets, die durch den Kapitalismus erzeugte Ungleichheit, gleiche sich bei längerer Prosperität wieder an, wurde vom Ökonomen Thomas Piketty vom Feld der Utopien gefegt. Piketty sieht eher eine steigende Divergenz in unseren Gesellschaften. Indikator hierfür ist die Explosion der Kapitalrenditen im Vergleich zum Wirtschaftswachstum. Dass die Renditen ins Unanständige wachsen, sehen wir vor allem während Finanz-, Banken- und Immobilienkrisen. Es ist aber ein Dauerzustand, mit dem sich Spitzenpolitiker weltweit gemein machen. Es geht also eigentlich gar nicht um Ungleichheit. Die ist dem Kapitalismus inhärent und mitunter mit Leistung, Verantwortung etc. begründet. Es geht um zutiefst ungerechte Wohlstandsverteilungen. Zugleich zeigt Pikettys empirisch groß angelegte Übersicht, dass unsere europäischen Wachstumsraten des 20. Jahrhunderts von 3-4% historische Ausnahmewerte sind, die sich so nicht halten lassen. Sie werden sich vermutlich zwischen 1 - 1,5% einpendeln (entspricht dem deutschen Wert) - wenn alles weitgehend krisenfrei läuft. Auch China muss sich mittlerweile über 6,5%, statt wie noch vor 9 Jahren über 14,2% Wachstum freuen. Wachstum bedeutet meistens auch Wandel in allen Lebensbereichen. Die letzten 200 Jahre haben uns das gezeigt. Napoleons Armee war noch genau so schnell marschiert wie die Makedonen Alexanders des Großen. Jetzt greifen unbemannte Drohnen an, weil sie das Signal eines Mobiltelefons orten.
Der wirtschaftliche Wandel scheint neben technischem Fortschritt viel Armut und Ungerechtigkeit zu bringen. wirtschaftliche Wandel scheint neben technischem Fortschritt auch viel Armut und Ungerechtigkeit zu bringen. Wenn einige herrschen und andere das Gefühl der Machtlosigkeit haben, ist das eine Kommunikationssituation, die ein Weltbild schafft, dessen Konsequenz eine andere Welt sein wird. Eine veränderte politische und soziale Struktur: Weg vom Bürgertum als sich selbst organisierende Öffentlichkeit mit politischem Partizipationsanspruch. Das bedeutet auch weg von der klassischen Demokratie des 20. Jahrhunderts, denn diese legitimiert sich durch die Partizipation der Bevölkerung. Was galt verliert an Gültigkeit: Demokratie lebt von der Beteiligung der Bürger am politischen Entscheidungsprozess. Der Mangel an Partizipation bei gelebter Demokratie konterkariert zum Zeitgeist der Medienpartizipationsgesellschaft. Während wir gerade im Web 2.0 Prinzip die Weltkommunikation mitgestalten wird das Politische zu „dem Anderen“ das uns nichts angeht. Es geht also nicht darum, dass die Gesellschaft tatsächlich ins Elend abgleitet. Das finden sie in Nairobis River Road oder in der Rivera Hernandez von San Pedro Sula. Es kommt neben dem handfesten Empirischen noch etwas Emotionales hinzu. Es kommt eben neben dem handfesten Empirischen noch etwas Emotionales hinzu. Ein Bauchgefühl, nicht mehr ernst genommen zu werden. Das hat sich im Brexit manifestiert, im Kampf gegen TTIP/CETA und in der Nominierung Donald Trumps. Es ist eher Trotz als Revolte. "Wenn Ihr uns nicht mehr ernst nehmt, nicht mehr repräsentiert, uns nicht fragt und nicht mitreden lasst, stellen wir Euch so viele Beine wie möglich." In diese Stimmung hinein kamen auch die Flüchtlinge. Instinktpolitiker wie Orbán haben wohl gefühlt, dass sie sich auf deren Kosten profilieren können. Für Merkel ist die Situation anders. Die unkontrollierte Zuwanderung hat für Viele - neben dem Gefühl eines schwach geführten Staates - den Verdacht bestätigt, die Kanzlerin tue mit dem ihr anvertrauten Land was sie wolle. Sie sei also abgehoben und undemokratisch. Ein unbemerktes Problem von Merkels "Wir schaffen das" war, dass dieses "wir" so längst nicht mehr existierte. Und jene die zur Besonnenheit mahnen? Die Medien? Dummerweise gibt es auch hier kaum jemanden der "bürgernah" ist. Wenn Jakob Augstein flankiert von Anne Will den Bautzener Bürgermeister tadelt, weil dieser sich flüchtlingsfeindlichen betrunkenen Randalierern stellt, und wenn er ein Aufbegehren der Zivilgesellschaft fordert, traue ich ihm dies selbst nicht zu. Weder den Mut, betrunkenen AfDlern gegenüber zu treten, noch Teil der Zivilgesellschaft zu sein. Der Ausdruck "Lügenpresse" kündigt den Medien, als dem vermittelnden Sprachrohr unserer Demokratie, die Gesprächsbereitschaft auf. Wir können uns eben nicht mehr leiden. Es gibt also soziale Ursachen und Ermüdungserscheinungen, wie sie alle Systeme erlebten. Interessanterweise gerade auch zu ihren Hochzeiten. Das prosperierende, mächtige, erfolgreiche Europa begrub sich 1914 ganz einfach selbst. Nicht umsonst erschien das berühmteste Buch jener Zeit unter dem Titel "Der Untergang des Abendlandes". Und der jüngste historische Rückblick auf die damaligen Akteure trägt den ebenfalls vielsagenden Titel "Die Schlafwandler". Auch wir schreiben "Eine neue Ordnung". Aber in der Hoffnung, dass sich Vergleichbares abwenden lässt, wenn man rechtzeitig aufwacht. Denn neben den hoffentlich eher kurzfristigen Schwierigkeiten der gegenseitigen Aversionen und der ebenfalls lösbaren wirtschaftlichen Ungerechtigkeit gibt es noch größere, langfristige Herausforderungen. 


Die Zeit seit den 1990ern bewerte ich als Übergangszeit. Der "Krieg gegen den Terror" oder der "Dschihad" sind Schmerzen des Chaos. Das Blut das aus Huntingtons Bruchlinien quillt. Es wird jedoch keine produktive neue Weltordnung daraus hervorgehen. Auch keine des radikalen Islam. Und wenn doch sind diese - und alle anderen - verfassten Zeilen ohnehin Makulatur. Das wäre vergleichbar mit den Zeiten nach dem Zerfall des Römischen Reiches. Jahrhunderte der Rechtlosigkeit, Schriftlosigkeit, ohne Medizin, Infrastruktur, Architektur und Erfindungen. So düster, dass der gemiedene Historiker Heribert Illig gemutmaßt hatte, die Katholische Kirche habe die 300 Jahre Geschichte nach dem 7. Jahrhundert einfach erfunden. So wenig konnte man den Zeitgenossen noch zutrauen, die kulturelle und architektonische Renaissance unter Karl dem Großen geschaffen zu haben. Das musste demnach eine Erfindung sein - und der große Karl gleich mit. Ein Blick in jene dunkle Zeit sollte allen Menschen, denen etwas an Kultur, Zivilisation, Miteinander liegt, zeigen dass wir durchaus eine bewahrenswerte Welt geschenkt bekommen haben. Es liegt nicht nur am Krieg, dass es so viele Muslime nach Europa zieht. Der Wohlstand den sie auch suchen ist kein Glücksfall. Der wirtschaftliche Aufschwung des Westens geht direkt mit der Freiheit des Denkens und der daraus entstehenden Bildung und den wieder daraus entstehenden Erfindungen und Innovationen einher. Aus dem Konflikt zwischen radikalen Fundamentalisten und westlichen Kreuzrittern werden allerdings beide geschwächt hervorgehen. 


Was kommt danach? Wir sprechen immer davon, welches Land der neue Hegemon sein wird? China, Indien? Oder doch weiter die USA? Alle Länder sind miteinander vernetzt. Es wird neue Techniken für alle geben. Ressourcen wie Öl und Wasser werden knapp werden. Alternativen werden für die ganze Menschheit gefunden werden müssen. Die Menschheit wird zudem weiter wachsen. Allerdings weniger rasant als bisher. Die außergewöhnliche Bevölkerungsexplosion des 20. Jahrhunderts von 1,4% jährlich schwächt sich bereits ab. Durch die fortschreitende Bildung der Frauen in Entwicklungsländern wird sie weiter sinken und 2050 bei vielleicht nur noch 0,1% liegen. Dann sind wir allerdings bereits bei knapp 10 Milliarden Menschen angekommen. 
Und das wo Forscher jetzt das Anthropozän ausgerufen haben. Also die Zeit, in der wir mit Landwirtschaft, Bergbau, Wassernutzung, Domestizierung von Flora und Fauna, Klimaerwärmung, Düngemitteln, Genforschung, nuklearen Fallouts usw. maßgeblicher als die Natur selbst in die Entwicklung des Planeten eingreifen. 


Wir können also weiter klagen über Stuttgart 21, Halliburton, Veritas Capital, oder Colin Powell oder Bunga Bunga oder.... Es scheint unwahrscheinlich, dass das System von Gestern für die Herausforderungen von Morgen geeignet ist. Und es liegt nicht nur an den Politikern und nicht nur an den Bürgern, dass unser "System am Ende ist". Dass die Zeiten und Bürger aber ebenso schlecht sind wie ihre Politiker, macht die Situation nicht besser. Aber das System ist bei weitem noch nicht kollabiert. Wir sind noch nicht im August 1914. Allerdings haben wir mit der US-Wahl und Englands Brexit deutliche "thumb-in-your-eye messages" erhalten. Wir können nur nicht mehr mit den Mechanismen der Cold-War-Ära weitermachen. Das System braucht ein Update. Teil III verspricht Lösungen.

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